Die Europäische Kommission hat beschlossen, Deutschland förmlich um Informationen über seine Pfand- und Rücknahmesysteme für bestimmte Arten von Einweg- (d. h. wiederverwertbaren aber nicht wiederverwendbaren) Getränkeverpackungen wie Dosen und Plastikflaschen zu ersuchen. Die Kommission befürchtet, dass die Art und Weise, in der diese Systeme angewandt werden, den Handel mit verpackten Getränken aus anderen Mitgliedstaaten unangemessen behindert und somit gegen den Grundsatz des freien Warenverkehrs im Binnenmarkt (Art. 28 EG-Vertrag) und Artikel 7 der Richtlinie 94/62/EG (Verpackungsrichtlinie) verstößt. Importierte Getränke sind besonders stark betroffen, weil diese, in erster Linie wegen langer Lieferwege, zu ca. 95 Prozent in Einwegverpackungen angeboten werden. Die Anfrage der Kommission erfolgt in Form einer schriftlichen Aufforderung zu Äußerung, der ersten Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens nach Artikel 226 EG-Vertrag. Deutschland wird ersucht, binnen zwei Monaten zu antworten. Stellt die Antwort die Kommission nicht zufrieden, kann sie Deutschland (in einer so genannten „mit Gründen versehenen Stellungnahme“) förmlich auffordern, das System zu ändern; käme Deutschland einer solchen Aufforderung nicht nach, könnte die Kommission den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anrufen.
Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein kommentierte den Beschluss mit folgenden Worten: „Wir haben viele Beschwerden darüber erhalten, dass deutsche Einzelhändler Getränke aus anderen Mitgliedstaaten aus den Regalen nehmen, weil sie verpflichtet sind, Pfand auf Einwegverpackungen zu erheben, obwohl es kein effizientes Rücknahmesystem gibt. Die Kunden können sich das Pfand, das sie für Dosen und Flaschen bezahlt haben, nicht zurückholen, und die Einzelhändler schreckt die Aussicht, leere Dosen und Flaschen lagern zu müssen. Würden die Getränkehersteller der EU vom deutschen Markt de facto ausgeschlossen, würde die Auswahl für deutsche Verbraucher eingeschränkt, und es läge unter Umständen ein ernsthafter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht vor. Die Kommission stellt Pfand- und Rücknahmesysteme nicht grundsätzlich in Frage, welche vorteilhaft für umweltschützende Ziele sind. Solche Systeme gibt es auch in anderen Mitgliedstaaten, und sie werden dort im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht angewandt. Die Kommission muss jedoch prüfen, ob die deutschen Pfand- und Rücknahmesysteme uneingeschränkt mit dem EU-Recht vereinbar sind und der EU-Industrie nicht etwa unverhältnismäßigen Schaden zufügen. Die Kommission hat diese Angelegenheit über mehrere Monate eingehend mit den deutschen Behörden erörtert.
Da aber offensichtlich kein einwandfrei funktionierendes landesweites Rücknahmesystem existiert, glaube ich, dass uns jetzt keine andere Wahl bleibt, als ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Ich hoffe aber nach wie vor, dass das Problem in Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden schnell gelöst werden kann und es nicht nötig wird, den Gerichtshof einzuschalten.“
Nach der deutschen Verpackungsverordnung müssen auf Mineralwasser, Bier und kohlensäurehaltige Erfrischungsgetränke in Einwegverpackungen (normalerweise Dosen und Plastikflaschen) je nach Füllvolumen mindestens 0,25 € oder 50 € Pfand erhoben werden.
Es gibt aber offenbar kein funktionierendes landesweites Rücknahmesystem, das es den Verbrauchern erlauben würde, solche Einwegverpackungen bei jeder beliebigen Verkaufsstelle zurückzugeben und sich dort das bezahlte Pfand zurückerstatten zu lassen. Die Einzelhändler sind stattdessen nur verpflichtet, Verpackungen zurückzunehmen, die nach Art, Form und Größe genau denjenigen entsprechen, die sie selbst im Angebot haben. Die Annahme anderer Arten von Leergut dürfen sie verweigern.
Wenn es kein funktionierendes landesweites Rücknahmesystem gibt, ist davon auszugehen, dass die Verbraucher weniger zu Getränken in Einwegverpackungen greifen, und die Einzelhändler könnte es dazu veranlassen, solche Getränke ganz aus dem Sortiment zu nehmen. Deshalb ist das Pfand- und Rücknahmesystem in seiner gegenwärtigen Form geeignet, die Einfuhr von Getränken nach Deutschland zu behindern; diese Import-Getränke werden nämlich, aus guten wirtschaftlichen Gründen, hauptsächlich wegen der langen Transportwege, zu etwa 95 % in Einwegverpackungen angeliefert.
Außerdem fördert das gegenwärtige System die Entwicklung besonderer Verpackungen, mit denen einige Einzelhändler versuchen, ihre gesetzliche Rücknahme- und Pfanderstattungspflicht zu unterlaufen. Diese Händler nutzen den Wortlaut der deutschen Verpackungsverordnung und ihre wirtschaftliche Macht aus, um ihre Lieferanten zu zwingen, ihnen Produkte in einer bestimmten Verpackung zu liefern, die andere Einzelhändler nicht erhalten können. So verringern diese Einzelhändler ihre finanziellen Verpflichtungen, denn sie nehmen nur Verpackungen von Produkten, die sie selbst verkauft haben, zurück und erstatten das Pfand dafür.
Diese Vorgehensweisen sind generell als „Insellösungen“ bekannt. Sie erhöhen die Produktionskosten und können Einfuhren aus anderen Mitgliedstaaten behindern, weil die Hersteller eigene Produktions-/Verpackungslinien für einige Abnehmer am deutschen Markt einführen müssen. Dies könnte auch Preiserhöhungen nach sich ziehen.
Quelle: Pressemitteilung der EU vom 21.10.2003
Weiterführende Links zu diesem Thema
Presseerklärung der Wettbewerbszentrale vom 23.10.2003
Mitteilung der Bundesregierung vom 30.09.2003 mit dem Titel: Ab 1. Oktober gilt: Wer Einweg verkauft, muss Einweg zurücknehmen
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